Fünf Fragen an den Herausgeber Jost Schieren, Professor für Schulpädagogik mit dem Schwerpunkt Waldorfpädagogik an der Alanus Hochschule
In dem Buch „Die philosophischen Quellen der Anthroposophie“ gibt es zahlreiche Beiträge – unter anderem von Hartmut Traub, Wolf-Ulrich Klünker, Axel Föller-Mancini und David Marc Hoffmann. In Anknüpfung an bedeutende Vertreter der Philosophiegeschichte wie Aristoteles, Thomas von Aquin, Kant, Fichte, Nietzsche, Brentano, Husserl und andere werden sowohl Zusammenhänge als auch Differenzen zum philosophischen Denken Rudolf Steiners herausgearbeitet und diskutiert.
„Die Anthroposophie soll in dem neuen Buch philosophisch gelesen werden.“ Kannst du das ein wenig konkretisieren?
Rudolf Steiner wird in der Gegenwart wesentlich mit Bezug auf Waldorfschulen, biologisch-dynamische Landwirtschaft und anthroposophische Medizin wahrgenommen. Diese so genannten Lebensfelder sind mehr oder minder etablierte Bestandteile unserer Gesellschaft – durchaus auch im globalen Kontext – geworden. Während aber die Praxis der Anthroposophie recht erfolgreich ist, wird die dahinterstehende Theorie lediglich als eine esoterisch-krude Weltanschauung verstanden. Dabei wird übersehen, dass Rudolf Steiners Anthroposophie (und seine Esoterik) auch einen originären philosophisch-wissenschaftlichen Kern haben, der es verdient näher betrachtet zu werden. Rudolf Steiner hat mit der Anthroposophie einen wissenschaftlichen Anspruch verbunden, der meines Erachtens noch viel zu wenig aufgegriffen und weiterentwickelt worden ist. Anthroposophie wird in der Öffentlichkeit und leider auch bei vielen Vertreter:innen eher als esoterische Glaubenslehre behandelt. Demgegenüber wurde und wird der philosophische Ansatz Rudolf Steiners eher vernachlässigt. Damit bringt man sich um die Chance, einen spannenden, tief-humanistischen und aufgeklärten philosophischen Standpunkt wahrzunehmen und im Kontext der abendländischen Philosophiegeschichte zu diskutieren. Genau darum geht es in der Publikation.
Mit der Veröffentlichung verbindest du den Anspruch der Brückenschläge zur abendländischen Denktradition. Wie gelingt das den Autoren?
Es ist schon so, dass Rudolf Steiner eher – sowohl Anthroposophie-intern als auch Anthroposophie-extern – als solitäre Größe wahrgenommen wird. Die Autoren dieses Buches überwinden diese Sicht, indem sie in ihren einzelnen Studien zeigen, wie Rudolf Steiner unmittelbar in die abendländischen Denktraditionen eingeordnet werden kann und dass es zahlreiche und vielschichtige Verbindungen zu wichtigen philosophischen Themen gibt: bspw. Begriffs- oder Geistrealismus, Ich-Begriff und Persönlichkeitstheorien, Phänomenologie und Aufklärungsphilosophie. Hier lassen sich Bezüge herstellen, aber auch Divergenzen zu Steiners Positionen finden. Diese werden in dem Buch diskutiert und ausgelotet.
Welche wichtigen philosophischen bzw. anthroposophischen Anknüpfungspunkte würdest du besonders hervorheben?
Im Zentrum steht sicherlich Steiners Freiheitsbegriff, der von der Überzeugung der autonomen Entwicklungsfähigkeit jedes einzelnen Menschen geprägt ist. Das ist ein humanistisch verankertes Individualitätskonzept mit einem hohen Ethos, das auch für die Lebensfelder der Anthroposophie bedeutsam ist. Darüber hinaus ist Steiners Denkbegriff, seine Epistemologie und sein monistisches Wirklichkeitsverständnis hervorzuheben. In dieser Sicht sind das menschliche Erkennen und das menschliche Bewusstsein nicht dual von der Welt getrennt, sondern Mensch und Welt (insbesondere auch die Natur) sind integrale Bestandteile einer Wirklichkeit, die im Erkennen konstitutiv hervorgebracht wird. Das hat auch Konsequenzen für ein neues ökologisches Bewusstsein.
Inwiefern erörtert das Buch die Einzigartigkeit von Steiners überliefertem Werk?
Die Anthroposophie Rudolf Steiners wird ja zu Recht als eine spirituelle Anschauung aufgefasst. Nun ist es so, dass wir mit der Aufklärung spirituell-mystische Weltsichten sozusagen wissenschaftlich überwunden und auch abgeschafft haben. Rationalität und Spiritualität sind im Sinne Kants zwei verschiedenen Bereichen zuzuordnen. Das eine gehört der Welt der Wissenschaft und das andere der Welt des Glaubens und der Religion an. Diese Trennung wird auch gesellschaftlich strikt umgesetzt. Nun bringt Steiner eine spirituelle Weltsicht, die zugleich einen wissenschaftlichen Anspruch erhebt. Das scheint dem Projekt der Aufklärung entgegenzulaufen. Hier liegt aber gerade das Interessante und Neue in Steiners Ansatz: Rationalität und Spiritualität zusammenzudenken, hier eine Symbiose herzustellen. Das führt am Ende zu einer Spiritualität, die rational reflektiert und wissenschaftlich validiert sein soll und zu einer Rationalität, die spirituell erweitert wird. Die Philosophen des Deutschen Idealismus, insbesondere Schelling und auch Hegel haben in diese Richtung bereits gedacht.
In welchen Kontext sollte die Anthroposophie heute gestellt werden? Was wäre der Gewinn für unsere Zeit?
Ich denke, anders als in einem wissenschaftlichen Kontext ist die Anthroposophie nicht lebensfähig. Das ist gerade ihr Anliegen und es wurde bisher nicht genügend stark aufgegriffen. Die Anthroposophie bietet Sinnperspektiven, nach denen heute vielfach gesucht wird. Sie zeigt integrale Sichtweisen, in der Mensch und Natur als Einheit gedacht werden. Sie bietet ganzheitliche Denk- und Handlungsmodelle, die in Wirtschaft, Pädagogik und Ökologie gefordert werden. Und sie hat im Zentrum ein produktiv-schöpferisches Menschenbild, das einem künstlerischen Handeln und der Ästhetik eine zentrale Stellung zuweist. Da dies alles auch Ideale und Bildungsziele der Alanus Hochschule sind, freue ich mich, dass die Studien in diesem Buch im Rahmen einer Ringvorlesung an der Alanus Hochschule erstmalig vorgetragen worden sind.
Jost Schieren (Hrsg.)
Die philosophischen Quellen der Anthroposophie
Eine Vorlesungsreihe an der Alanus Hochschule
(Reihe Kontext Band 17)
Info3 Verlag, Frankfurt am Main 2022
344 Seiten, Broschur, € 24,90
ISBN 978-3-95779-157-3