Forschungsprojekt „Neue Alterskultur“
Notwendig wird in unserer zunehmend „alternden“ Gesellschaft eine neue Qualität des bürgerschaftlichen Engagements. In dessen Zentrum stehen eine neue individuelle Alterskompetenz sowie eine gesellschaftliche Alterskultur („Dialog der Generationen“). Bürgerschaftliches Engagement wird damit zu einer Kernkompetenz des Neuen Alter(n)s, gründend auf der Fähigkeit des lebenslangen Lernens.
Wir leben in einer historisch einmaligen Zeit: Noch niemals wurden so viele Menschen gleichzeitig so alt, mit weiter zunehmender Tendenz. Zurzeit steigt die Lebenserwartung pro Jahr um 2-3 Monate. Gleichzeitig geht bei den entwickelten Industriegesellschaften die Zahl der Geburten drastisch zurück und fällt seit langem unter die Marke der Bestandserhaltung. Deutschland ist das Land, in dem diese Entwicklungen zuerst auftraten. Beide Entwicklungen führen zu dramatisch alternden Gesellschaften, die in der menschlichen Geschichte ohne Beispiel sind. Es müssen neue Wege gefunden werden, um vom prognostizierten „Krieg der Generationen“ (Gronemeyer) zu einem Dialog und zu einer „Kultur der Generationen“ zu kommen. Dazu bedarf es einer Rückbesinnung auf die anthropologischen Grundkonstanten, denn es handelt sich hier nicht um Naturgesetze, sondern um von Menschen herbeigeführte Entwicklungen. Allerdings: Ohne eine neue, vertiefte und dynamische Anthropologie (Menschenerkenntnis) besteht die Gefahr, dass nur Symptome kuriert werden, aber kein „heilsamer“ Impuls erfolgt.
Denn wir leben bereits im „Jahrhundert des Alters“! Und dieses neue Alter zeigt auch neue Qualitäten: Es beruht nicht nur auf langjähriger impliziter Lebens- und Berufserfahrung (Experten-Status), sondern begründet auch eine Intuitionsfähigkeit und Kreativität, die biografiegeprüft und konfliktgeübt ist und in Entscheidungsprozessen zu Integrität und Integration führt. Kurz: Das Wissens-und Erfahrungspotenzial des neuen Alters („Schatz im Silberhaar“) kann zur bedeutsamen Ressource, zum Humankapital zukünftiger Gemeinschaften werden. Freilich, dieses Potenzial ist implizit, muss geweckt, entwickelt und qualifiziert werden, damit es als individuelle, fachliche und gesellschaftliche Kompetenz umgesetzt werden kann.
Mit der genannten demographischen Herausforderung, also der inzwischen nicht mehr übersehbaren Tatsache der Schrumpfung, Überalterung und zunehmenden Heterogenität in der bundesdeutschen Bevölkerung, muss sich auch unser Staatsverständnis wandeln. Die großen gesellschaftlichen Herausforderungen wie Alterung, Integration, Migration, Bildung, Pflege und Gesundheit können absehbar nur in einem Staat gemeistert werden, in dem die Bürgerinnen und Bürger selbstverantwortlich ihren Beitrag für die Gemeinschaft leisten können und wollen, weil sie in Entscheidungsprozesse eingebunden und als Akteure auf Augenhöhe akzeptiert sind. In einer solchen zivilgesellschaftlichen Organisation des Staates hat Deutschland einen Nachholbedarf. Denn in der deutschen Staatstradition konnte sich die Vision einer partizipativen Bürgergesellschaft bis heute nicht durchsetzen: Nicht die Initiativen der Bürger gelten als Garanten für Demokratie und Wohlfahrt, sondern die Vorgaben des politisch – administrativen Komplexes. Der demographische Wandel ist damit zugleich auch die Chance für dieses Bürgerschaftsmodell: Immer mehr Menschen mit einer langen beruflichen Erfahrung, in der sie vielfältige Kompetenzen erworben haben, scheiden aus dem Erwerbsleben aus und sind interessiert daran, ihre Kompetenzen der Gesellschaft weiterhin zur Verfügung zu stellen. Auch die Befragung von Mitgliedern der Hannoverschen Kassen Anfang 2011 hat ergeben, dass es für ein bürgerschaftliches Engagement im Alter ein hohes fachliches und persönliches Potenzial gibt. Es ist einerseits wichtig, die vielfältigen Wissensbestände und Erfahrungen explizit für ein kompetentes bürgerschaftliches Engagement fruchtbar zu machen. Zum anderen bilden Formen bürgerschaftlichen Engagements sinnstiftende Tätigkeiten für die wachsende Bevölkerungsgruppe im dritten Lebensabschnitt und tragen zu einer generationenübergreifenden Verständigung und Integration bei.
Unsere Gesellschaft ist dringend auf deren Erfahrungen und kreatives Potenzial angewiesen und wir brauchen mehr Möglichkeiten, anspruchsvolle bürgerschaftliche Engagements als Kompetenz auszubilden, wissenschaftlich zu fundieren und zugleich praxisorientiert zu vermitteln.
Vor diesem Hintergrund wurde der Zertifikatsstudiengang „Bürgerschaftliche Kompetenz im Dialog der Generationen“ entwickelt, durchgeführt und evaluiert. Dieses Studium soll dazu befähigen, auf wissenschaftlicher Grundlage und handlungsgerichtet, konkrete Projekte in einer Bürgergesellschaft zu planen, durchzuführen und auszuwerten. Um eine realitätsbezogene Auswahl von Teilnehmerinnen und Teilnehmern zu erhalten und damit auch die Heterogenität der sich bürgerschaftlich engagierenden Gruppen abzubilden, wurden keine inhaltlichen Auswahlkriterien vorab festgelegt; es wurde lediglich die (intrinsische) Bereitschaft zur Selbst-Verpflichtung eingefordert. So wurde auch auf dieser Ebene das Prinzip der Freiwilligkeit von bürgerschaftlichem Engagement nachvollzogen, das in diesem Sinne immer wieder neu und beständig seelisch aktiviert werden muss.
Der hier dokumentierte Pilotstudiengang stand im Dienst dreier zentraler Ziele:
Kompetenzerwerb für die Projektarbeit im Rahmen eines „strategischen“ bürgerschaftlichen Engagements („Signatur der Gegenwart“)
Realisierung und Reflexion des generationenübergreifenden und interdisziplinären Dialogs,
Evaluation des inhaltlichen und methodischen Konzepts für die Weiterentwicklung des Studiengangs.
Der Zertifikatsstudiengang steht im Kontext des Forschungsprojektes „Neue Alterskultur“. Grundlage waren u.a. zwei Expertentagungen bei den Hannoverschen Kassen in Hannover und der Alanus Hochschule in Alfter bei Bonn sowie die Abschlusstagung im dm-Logistikzentrum Weilerswist.
Abschlussbericht
Das Zertifikatsstudium wurde am 16.9.2011 begonnen und am 8. März 2012 mit 25 Teilnehmern erfolgreich abgeschlossen. Die Studierenden erlebten einen Motivationsschub in Richtung bürgerschaftliches Engagement, ein Teil wünscht eine wissenschaftliche Qualifizierung im Sinne eines Masterstudiengangs („Bürger-Master“). Die Teilnehmer wirkten anschließend als Multiplikatoren und entwickelten ihre Projekte, in denen ihr Erfahrungswissen und ihre Kompetenz sich mit gesellschaftlich und sozial notwendigen Aufgaben verbanden. Zwei Beispiele dafür sind das „Institut für Berufseinführung“, wo neue Lehrer in Waldorfschulen durch ältere und erfahrene Mentoren eingeführt und begleitet werden sowie die „Feier des Lebens“ als Übergangsritual und Initiationsprozess von der (Erwerbs-)Arbeit zum bürgerschaftlichen Engagement (Kapitel IV, 2 und 3).
Im Abschlussbericht wird zunächst in Kapitel I „Dokumentation“ der Studiengang ausführlich beschrieben, einschließlich der Abschlussveranstaltung mit Projektpräsentation, Zertifikat, empirischer Evaluation sowie Ausblick, Stand März 2012.
In Kapitel II „Interviews und Rückmeldung“ werden Interviews mit einem Teilnehmer/und Teilnehmerinnen dokumentiert sowie ein Beispiel für Rückmeldungen von Seiten der Studierenden während des Studiums, als eine Art prozessbegleitender Evaluation. In Kapitel III „Modulhandbuch“ werden analog zu Modulhandbüchern akademischer Studiengänge die entsprechenden Module dargestellt und beschrieben.
In Kapitel IV „Weiterführung“ wird eine Auswahl von Projekten und Initiativen vorgestellt, die sich seit der Abschlusspräsentation des Zertifikatsstudiums März 2012 entwickelt haben, dies erlaubt eine erste Einschätzung der Fruchtbarkeit des Konzeptes des Zertifikatsstudienganges.
Im Kapitel V „Anhang“ sind alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Zertifikatsstudienganges kurz porträtiert, es ist die damalige Infobroschüre „Bürgerschaftliche Kompetenz im Dialog der Generationen“ dargestellt und zum Ende ist die Langfassung einer empirischen Befragung dokumentiert.
Zusammenfassend: Über ein kompetentes bürgerschaftliches Engagement führt der Weg zu neuen Gemeinschaften in einer demokratischen Zivilgesellschaft – im Dialog der Generationen.
Projektleitung:
Hilmar Dahlem (Hannoversche Kassen)
Dr. Dietmar Müller (AG Waldorfpädagogik NRW)
Prof. em. Dr. Karl-Klaus Pullig (Universität Paderborn)
Projektlaufzeit/-status: 03/2011 – 09/2012, abgeschlossen
Projektförderung: Software AG Stiftung