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Den Ernstfall erleben

Ästhetische Bildung im Kunst-Studium

Raus aus dem Atelier und rein in die Realität: In den Bachelor- und Master-Studiengängen der Bildenden Kunst arbeiten Studierende der Alanus Hochschule in Alfter bei Bonn projektbezogen auch an den Randzonen der Gesellschaft, zum Bespiel mit Gefängnisinsassen und Obdachlosen oder an verlassenen Plätzen wie einer stillgelegten Fabrik in China. Warum Ästhetische Bildung auch hier ein wichtiger Teil der Wahrnehmungsschulung und Persönlichkeitsbildung ist, erklärt Prof. Dr. Ulrika Eller-Rüter im Interview.

Drei Fragen an Ulrika Eller-Rüter, Professorin für Malerei und Kunst im gesellschaftlichen Kontext an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Alfter/Bonn.

Was verstehen Sie unter Ästhetischer Bildung?
Ich verstehe  darunter eine Auseinandersetzung mit den Sinnessphären. Damit einher geht die Schulung der Wahrnehmungsfähigkeit: Was nehmen die Augen wahr, was die Ohren? Was geschieht im Zusammenspiel der verschiedenen Sinneswahrnehmungen? Außerdem geht es um Persönlichkeitsbildung: Wenn ich meine Sinne schärfe, werde ich als ganzer Mensch angesprochen. Sehsinn und Erkenntnis hängen eng zusammen, das ist im Deutschen ja auch sprachlich schön verknüpft, etwa im Wort „erkennen“ oder der Redewendung „Mir geht ein Licht auf“. Bei der ästhetischen Bildung interessiert mich also, Welterkennen und -verstehen. Und als Künstlerin greife ich immer ein: Ich transformiere Material und schaffe einen neuen Sinnzusammenhang, der sich aus dem rein Zweckmäßigen abhebt.

Können Sie ein konkretes Beispiel für solche Prozesse nennen?
Wichtig finde ich den Kontext. Wir arbeiten ganz bewusst nicht nur im Atelier, sondern gehen raus, besonders an Orte, an denen man die Kunst eher nicht erwartet. Ich reise mit den Studierenden gewissermaßen zu den Akupunkturpunkten der Gesellschaft. Dort schauen wir als Künstler mit einem diagnostischen Blick, was virulent ist. Mit der Kunst machen wir so auch soziale Prozesse sichtbar – nicht in einem missionarischen oder therapeutischen Sinne, sondern als Künstler, die etwas Neues schaffen und dadurch einen Zwischenraum bilden, in dem die Schöpfenden, aber auch die Rezipierenden neue Erkenntnisse erlangen können.

Wir waren im Gefängnis und Townships, in einem Roma-Dorf oder an den Mauern in Palästina. 2018 konnten wir nach China reisen, das war ein Doppelprojekt im Rahmen der Städtepartnerschaft zwischen Bonn und Chengdu. Zusammen mit chinesischen Studierenden haben wir auf dem verlassenen Gelände einer alten Zahnrad-Fabrik zum Thema „Injection and Reflection“ gearbeitet. Durch Zufall traf ich dort auf Arbeiterinnen und Arbeiter, die verbotener Weise in verfallenen Gebäuden hausen, sich als Tagelöhner ihren Unterhalt verdienen und dort unter schwierigsten Bedingungen leben. Solche Themen werden in China üblicherweise nicht öffentlich thematisiert. Aus Fundstücken, Müll und Schutt sind dann Kunstwerke entstanden, die sogar im Museum ausgestellt wurden. Einen Monat vorher hatten die chinesischen Studierenden uns in Bonn besucht und wir haben unter anderem mit Obdachlosen am Hauptbahnhof künstlerisch zusammengearbeitet. Wir haben uns gegenseitig die „Wunden“ der Gesellschaft gezeigt, nicht nur die touristischen Highlights.

Wie kommt das bei den Studierenden an?
Das, was mir zurückgemeldet wird, ist Begeisterung. Die Studierenden haben den Eindruck, dass sie einen Ernstfall erleben, einen Sinnkontext, der sie künstlerisch inspiriert. Ich habe eine sehr engagierte, internationale Klasse. Anregungen für neue Projekte kommen auch von den Studierenden selbst. So geraten wir an die unterschiedlichsten Orte. Auch in der Zusammenarbeit mit anderen Kunsthochschulen ist im Laufe der Jahre ein tolles Netzwerk entstanden. Aktuell kooperieren wir zum Beispiel mit einer Hochschule in Polen, mit der wir gemeinsam parallel zur Biennale in Venedig einen Beitrag für einen übernationalen Kunstpavillon auf der Insel Giudecca gestalten wollen.

 

Zur Person:
Prof. Dr. Ulrika Eller-Rüter ist seit 2006 Professorin für Malerei und Kunst im gesellschaftlichen Kontext an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Alfter/Bonn. 2008 gründete sie das Institut für Kunst im gesellschaftlichen Kontext. Sie arbeitet als Multimedia-Künstlerin und zeigt ihre Performances und Werke in internationalen Ausstellungen. Außerdem initiiert und leitet sie interkulturelle, partizipatorische und interdisziplinäre Projekte im öffentlichen Raum u. a. in Palästina, Südafrika, Russland, China, Iran, Litauen und Deutschland.

(Foto: Ulrika Eller-Rüter)

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